Tuesday, 14 December 2010

Über die Freiheit

"Die menschlichen Leidenschaften halten nur vor einer moralischen Macht inne, die sie respektieren. Wenn aber jede Autorität dieser Art fehlt, dann herrscht das Recht des Stärkeren, und der latente oder offene Kriegszustand ist notwendigerweise chronisch.
Daß eine solche Anarchie ein krankhaftes Phänomen ist, ist offenkundig, denn sie richtet sich gegen das vornehmlichste Ziel einer jeden Gesellschaft, nämlich den Krieg zwischen den Menschen zu unterdrücken oder zum wenigsten zu mildern, indem man das physische Recht des Stärkeren einem höheren Recht unterordnet. Um diesen Zustand der Regellosigkeit zu rechtfertigen, macht man vergebens geltend, daß er den Aufschwung der individuellen Freiheit begünstigt. Nichts ist falscher, als zwischen der Autorität der Regel und der Freiheit des Individuums einen Widerspruch herstellen zu wollen. Im Gegenteil: die Freiheit – wir verstehen darunter die gerechte Freiheit, deren Beachtung zu erzwingen die Gesellschaft verpflichtet ist – ist nachgerade der Ergebnis von Regulationen. Ich kann nur in dem Maß frei sein, in dem ein anderer daran gehindert wird, seine physische, ökonomische oder andere Überlegenheit, die er besitzt, auszunützen, um meine Freiheit zu unterdrücken; nur soziale Regeln können einen Mißbrauch der Macht verhindern. Wir wissen heute sehr wohl, welche komplizierten Regelungen nötig sind, um den Individuen die ökonomische Unabhängigkeit zu sichern, ohne die ihre Freiheit nur ein Wort wäre." (Emile Durkheim: In Über Soziale Arbeitsteilung, S.43, Suhrkamp 1988, 1893